mirabellenlieder

19. September 2023
  • auf der ebene liegt flanell
  • die erste sonne greift danach
  • fasane zerhacken die luft

  • kindgewordener morgen
  • malt pastell ans vordach

  • der leuchtturm fällt in tiefen schlaf
  • versäumnisse verebben
  • mirabellenlieder hallen nach
Arbeit als Autorin und Biologin, Inhaberin von Büro Witschi. Diverse Lyrik- und Prosaprojekte, Vertiefung in Nature Writing. Publikation von Essays zu Spinnen, Käfern, Pilzen. Bildungsgang Literarisches Schreiben, EB Zürich. 2018 Finalistin TREIBHAUS-Wettbewerb, 2023 Schreibstipendium Kanton Bern.
Dieses Gedicht wurde von Das Narr kuratiert.

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Den Idyllen zum Trotz

Franziska Witschis Text zeichnet eine Landschaft. Eine Landschaft, die idyllisch vor sich hin plätschert; alles ist wollig eingepackt und in Pastelltöne gelullt, selbst die Lichtquellen legen sich erschöpft – wie auch die menschlichen Fehler – in die Stille dieser Landschaft. Und dann hallen noch sanft fruchtige Lieder nach. Alles schön und wunderbar behaglich, so macht es den Anschein. Und wirklich durchbrochen wird die Idylle des Gedichts tatsächlich nie, die Fasane treten zwar als Störfaktor auf, aber zu einem offensichtlichen Durchbruch kommt es nicht. Franziska Witschis Text erzählt in Unter- und Zwischentönen, vielleicht von der Ruhe vor dem Sturm, vielleicht vom pastellfarbenen Glück und vielleicht auch von einem angstmachenden Zustand des Stillstands.

Es passt hervorragend, verfasse ich diesen Text während der 153 km/h schnellen Vorbeifahrt an einem orange-grünen Kürbisfeld, weil diese Erfahrung mit dem Stillstand des Gedichts kontrastiert. Während ich vorbeirase bewegt sich das Gedicht um keinen Millimeter, die einzige Bewegung kommt von den nachhallenden Mirabellenliedern, die im Text poetisch überhöht werden. Es scheint eben alles zu idyllisch, um wahr zu sein. Und in gewisser Hinsicht ist es das auch, das tatsächliche Mirabellenlied ist ein heimatkitschiger Walzer, jedes Jahr zum Eisenbacher Mirabellenfest besungen. Meine Reaktion bei der Recherche ist Trotz: Ich will nicht wahrhaben, dass dieses kunstvoll in die Landschaft gelegte Mirabellenlied in einer Realversion existiert und etwas anderes ist, als Teil der im Text besungenen Idylle. Aber dem Trotz zum Trotz: Die Aneignung des Mirabellenlieds ist so vollkommen – auch weil es im Plural gesetzt wird und somit noch auf andere Mirabellenlieder verweist – es wird unwesentlich, ob es die besungene (im Lied und im Text) Idylle überhaupt gibt, weil man als Leser:in, verzaubert von den Mirabellen und der sich darin aufspannenden Landschaft, einfach froh ist ob der Tatsache, dass es Lieder gibt, die nur für Mirabellen geschrieben worden sind.

Nick Lüthi

Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.

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